Wann hast du das letzte Mal eine neue Sprache erlernt? Eine Sportart ausprobiert? Ein Instrument angefangen zu spielen? Einen kreativen Text geschrieben oder ein Sachbuch gelesen?
Mindestens eine, wenn nicht mehrere deiner Antworten werden wahrscheinlich in die Jugend zurückreichen – was unweigerlich zu der Frage führt, warum wir eigentlich irgendwann aufhören, uns auf breiter Basis auszutesten und neue Fähigkeiten zu entwickeln?
Ist es nicht paradox: Unser Bildungssystem, darauf ausgerichtet, uns Wissen und Skills zu vermitteln, entlässt uns eines Tages mit einer gewissen Lernmüdigkeit in die „Freiheit“. Vieler Eigenschaften beraubt, die uns als Kind ausgemacht haben: Neugierde, Experimentierfreude, Begeisterungsfähigkeit. Damals „wollten“ wir alles wissen, heute „müssen“ wir alles wissen. Statt Lernen als Privileg zu betrachten, empfinden wir es als Pflicht. Oder hast du jemals jemanden sagen hören, dass er eine Klausur schreiben „darf“?
Die Bildungsfabrik
Der Philosoph Richard David Precht führt dies vor allem auf die Ursprungsidee unseres Bildungssystems zurück: So wurde unser Schulsystem in seinen Grundzügen Ende des 19. Jh. mit dem Ziel konzipiert, „treue preußische Untertanten“ für Staat und Wirtschaft zu erschaffen. Schulen wurden gebaut wie Militärkasernen: Als „verwaltungstechnisch durchorganisierte Einheiten“ mit dem Fokus auf Aufgabenerfüllung anstatt Potentialentfaltung. Eine Fabrik, die ausgelernte Marionetten für spezielle Funktionen produziert.1
Nun, was hat sich seitdem am Konzept geändert? Werfen wir einen Blick auf das Schulsystem von heute, sind die Klassenzimmer heller geworden, die Lehrer netter und die Kleiderordnung freier. Schule wurde jedoch nie von Grund auf „neu gedacht“, sondern beruht auf alten Denkmustern, die moderne pädagogische Konzepte unzureichend berücksichtigen:
- Quantität statt Qualität: Gute Bildung wird mit großem Lehrplan verwechselt. Mehr als 10 Pflichtfächer in der Oberstufe und ein Upgrade von 20- auf 40-Stunden-Wochen für Studenten als Zielvorgabe der Bologna-Reform: Möglichst viel Wissen soll in möglichst kurzer Zeit verarbeitet werden. Die fatale Folge ist, dass Lernen mit Stress und Zwang assoziiert wird.
- Leistung statt Leidenschaft: Auch in der Bildung wird alles mess- und vergleichbar gemacht. Erfolg wird über Noten definiert, Fehler gnadenlos bestraft. Wen interessiert deine 1 in Sport, wenn du eine 5 in Mathe hast? Du hast ein Alleskönner zu sein, um Anerkennung zu erfahren. Statt dich in deinen Stärken zu fördern, wird dir gepredigt, an deinen Schwächen zu arbeiten.
- Fachwissen statt Fähigkeiten: Das beste Kurzzeitgedächtnis siegt. Die Wissenswiedergabe wird mustergültig trainiert, die Persönlichkeit nur stiefmütterlich behandelt. Zugunsten der Fachkompetenz werden zwei weitere Kompetenzfelder vernachlässigt: Die Selbstkompetenz, definiert als die Fähigkeit eigene Talente zu entfalten und Lebenspläne zu entwerfen sowie die Sozialkompetenz im Sinne eines situationsadäquaten Verhaltens in zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Ergebnis: 15 Punkte aber 0 Selbstvertrauen.
- Theorie statt Praxis: Mit dem Abi haben wir das Ticket für die Uni, aber nicht den Fahrplan fürs Leben – oder um es mit den überspitzten Worten der Schülerin Naina aus ihrem viralen Tweet zu sagen: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“
- Vergangenheit statt Zukunft: Die Mühlen in unseren Kultusministerien mahlen langsamer als die Innovationskraftwerke von Amazon, Facebook & Tesla. Was du gestern noch gelernt hast, kann bereits morgen überholt sein. Richard David Precht schätzt, dass gut 60% der Berufe, die Kinder später ergreifen werden, heute noch gar nicht erfunden sind.1 Dumm nur, dass sich Lehrpläne vor allem an der Vergangenheit und Gegenwart orientieren, aber für neueste Forschung, Visionen und Phantasien wenig Raum bieten.
Non scholae, sed vitae discimus
(„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“)
Wir können festhalten: Weder in 12 noch 13 Jahren schafft es die Schule, uns auf das wahre Leben vorzubereiten. Wir lernen nicht bedürfnisorientiert, nicht praxisorientiert, nicht zukunftsorientiert. Die Konsequenz ist, dass wir verlernen zu lernen – uns der Spaß am Lernen geraubt und der Sinn des Lernens infrage gestellt wird.
In der Gesellschaft und Arbeitswelt von morgen wird lebenslange Lernflexibilität jedoch maßgeblich für ein erfolgreiches und glückliches Leben sein:
Bereits jetzt sind wir gefordert, uns ständig in neue Technologien einzuarbeiten. Von Social Media bis Software entstehen neue Produkte in immer kürzeren Zyklen und stellen unsere Anpassungsfähigkeit auf die Probe. Zudem entstehen verstärkt völlig neuartige Aufgaben und Jobs – etwa der Tele-Chirurg oder der Roboter-Berater2– während andere vollständig wegfallen und von intelligenten Maschinen übernommen werden. Somit werden die wenigsten von uns bis zur Rente nur einem Beruf nachgehen können und Quereinstiege zur Regel werden. Um diese agilen Karrierewege zu meistern, werden wir gefordert sein, uns immer wieder in neue Arbeitsfelder einzuarbeiten. Und das ist nur der Anfang – langfristig wird durch Automatisierung womöglich nicht mehr genügend Arbeit für alle zur Verfügung stehen. Dann sind wir gefordert, weniger in Berufen und vielmehr in „Beschäftigungsinteressen“ zu denken – also längerfristigen Aktivitäten, mit denen wir unsere arbeitsfreie Zeit verbringen wollen. Jeder sehnt sich zunächst nach mehr Urlaub und Freizeit, aber so ganz ohne Aufgabe und Sinn verfallen wir in Lethargie und Depression. Wir werden uns fragen müssen: In welche Richtungen möchte ich mich entwickeln? Kurz gesagt: Lernwille schützt vor Langweile.
Dass dieses Szenario nicht unrealistisch ist, zeigt sich am Beispiel Finnland: Hier bereitet man sich bereits auf die Herausforderung massenhafter Arbeitslosigkeit durch Experimente mit dem bedingungslosen Grundeinkommen vor, das heißt einer einkommensunabhängigen monatlichen Zahlung des Staates an jeden einzelnen Bürger – ob arbeitslos oder nicht. Dies macht Bürger unabhängiger von der klassischen Berufswelt, erleichtert das Ausprobieren neuer Jobs und verringert die Hürde zur Selbstständigkeit – und führt bei den finnischen Teilnehmern jetzt schon erfolgreich zu geringeren Stresspegeln.3
Wir können festhalten: Um in der Welt von morgen erfolgreich und erfüllt zu sein, muss unser Drang nach Weiterbildung und –entwicklung das Bildungssystem „überleben“. Wir müssen außerhalb von Klassenzimmern, Hörsälen und Büros eine „aktive Offenheit“ an den Tag legen: Das heißt aufgeschlossen, wissbegierig und experimentierfreudig sein.
Wecke den Wissenshunger
Wie erhalten wir unseren kindlichen „Lernhunger“ und kommen auf den Geschmack der ständigen Weiterentwicklung?
- Entfache Sehnsüchte in dir: Reflektiere deine Ziele nicht nur in Schule, Uni oder Job, sondern umfassend für dein Leben: Wer bist du bereits, wer wärst du gerne? Was kannst du bereits, was würdest du gerne können? Was hast du bereits, was hättest du gerne? Wer Leidenschaften verfolgt, ist umso motivierter, Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Für die Ist-Analyse sind Familie und Freunde ein guter Ratgeber. Schwieriger ist es, den Soll-Zustand zu definieren. Um verborgene Wünsche in sich zu entdecken, helfen Inspirationsquellen: etwa Reisen, Geschichten oder Kunst. Dinge, die deinen Alltag durchbrechen, in dir Emotionen auslösen, deine Phantasie anregen. Das können spontane Roadtrips sein und Kulturfestivals in deiner Stadt sein, aber auch inspirierende Ted Talks und Biografien großer Persönlichkeiten. Wichtig ist, dass du es regelmäßig schaffst, deine Gedanken von Klausuren & Job To Do’s zu lösen und zu neuen Themen zu verlagern.
- Wage dich aus der Komfortzone: Jeden Tag hast du die Wahl zwischen Entertainment und Information. Zwischen Verantwortungsabgabe und -übernahme. Zwischen Stillstand und Wachstum. Wenn du ein Vorhaben erreichen willst, warte nicht lange und stürze dich ins Abenteuer. Ganz nach dem Motto: Learning by Doing. Denn wenn du etwas erreichen möchtest, was du noch nicht hast, musst du etwas tun, was du noch nicht getan hast. Auf dem Weg zum Ziel lernst du automatisch Dinge, die du dir nicht explizit vorgenommen hast: Willst du etwa Fotograf werden, reicht es heutzutage nicht, schöne Fotos zu schießen, sondern du musst Netzwerken können und dich auf Social Media zu inszenieren verstehen – ganz zu schweigen von Wissen zu Online-Bildrechten, Cloud-Speichern & Co. Als „Unternehmer deiner Privat-Projekte“ schmiedest du dir viele wertvolle Werkzeuge für dein Leben: Kreativität für Problemlösungen, Mut für Entscheidungen, Verantwortung für Fehler. Auch lernst du Niederlagen als Lerneinheiten zu betrachten und neue Herausforderungen als Wachstumschancen zu erkennen.
- Suche dir Verbündete: Alles, was du brauchst, kannst du dir im digitalen Zeitalter selbst aneignen – oder mit Hilfe anderer Menschen: Sei es aus der Online-Community oder deinem Netzwerk. Ob du an deinen Einstellungen, deinen Fähigkeiten oder deinem Wissen arbeiten möchtest – nutze auch den Erfahrungsschatz anderer. Es gibt fast zu jedem Vorhaben Menschen, die dieses ebenfalls erreichen wollen, aktuell schon daraufhin hinarbeiten oder es bereits realisiert haben. Im besten Fall baust du dir ein Netzwerk aus allen drei Typen auf: Sparringspartner zur Motivation, Mastermind-Gruppen zur Inspiration und Mentoren zur Navigation. Das Prinzip ist denkbar einfach: Je mehr unterschiedliche Menschen dich umgeben, desto mehr Perspektiven bist du ausgesetzt und desto mehr Gedankenanstöße erhältst du. Mehr zum Thema Netzwerken und Mentoring findest du im Artikel People are your best Invest.
Das vielleicht beste Beispiel eines Menschen, der all dies beherzigte und jedem von uns als Vorbild dienen kann, ist Gunter Sachs. Als wohlhabender Industriellenerbe der Opel-Dynastie geboren und als „einziger deutscher Playboy“ zu Prominenz gelangt, hätte er sich im Leben zurücklehnen können. Stattdessen erfand er sich immer wieder neu: Geradezu inspirationssüchtig bereiste er unzählige Kulturen und lebte an verschiedenen Orten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, England und den USA. Er bewegte sich beruflich wie privat immer außerhalb seiner Komfortzone – statt der Verwaltung seines Vermögens baute er das Familienimperium aus und schuf seine eigene Modekette mit 400 Filialen. Und seine engen Verbündeten reichten von Andy Warhol in der Kunstszene bis zu Roman Polanski in der Filmbranche – Stars, die er nicht erst in der High Society, sondern vor ihrem Durchbruch kennen lernte. Sein ungestillter Lernhunger bescherte ihm zahlreiche Erfolge: So wurde er Europameister im Bobfahren, erhielt renommierte Auszeichnungen als Fotograf und Dokumentarfilmer, erlangte Weltruhm als Galerist und Kunstsammler und schaffte es als Autor mit dem Thema Astrologie auf die Spiegel Bestseller-Liste. Wenig verwunderlich, dass Schwiegertochter Maryam über ihn sagte, er habe „das Leben von 20 Menschen zusammen“ geführt. Seine inspirierende Lebensgeschichte wurde verfilmt und ist ein absoluter Must Watch – klicke hier4. In diesem Sinne: Stay Hungry!
ZUR WEITEREN INSPIRATION
Artikel und Videos
1 Richard David Precht bei „Markus Lanz“, Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=WE-zHN04tD0
2 Kanadische Stiftung für Bildungsförderung (CST): „careers 2030“, Link zur Studie: https://careers2030.cst.org/jobs/
3 Business Insider: „Seit 4 Monaten testet Finnland das Grundeinkommen — schon jetzt gibt es einen unerwarteten Effekt“, Link zum Artikel: http://www.businessinsider.de/bedingungsloses-grundeinkommen-test-in-finnland-zeigt-ersten-effekt-2017-5
4 SRF: „Die Gunter Sachs Story“, Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=IEprYLdZyxQ&t=1423s